Der Tiger, ihn
zu zeichnen, sich ihm
anzunähern, ist ein Wagnis. Ihn zu verstehen hieße,
tief
in sich selbst hineinzuschauen;
denn ist nicht das Tier Teil
unserer eigenen Entwicklung? Versunken ist das Wissen um unsere
kreatürliche,
wilde Schönheit und Energie.
Das Tigerhafte
ganz zu erfassen, stellt uns vor Rätsel, die wir
lösen wollen. Das Konzept “Spuren des
Tigers“ wurde in den Jahren
von 1978 bis 2008
exemplarisch verfolgt. Des
Tigers Spuren sind vielfältig und verwirrend, sie verlieren
sich
mitunter im Dschungel emotionaler Befindlichkeiten, sie
erschöpfen
sich in nicht endender Nachrichtenflut, beschämen uns in der
Vereinnahmung durch die Welt des Konsums.
Der Tiger ist so viel mehr als ein
schönes Muster, als Kuschelplüsch, als Comicfigur,
als
Jagdtrophäe.
Wir ahnen den
Adel seiner Spezies, der
Blick in sein Auge öffnet uns ferne Welten, die Stromung
seines Fells gleicht einer Chiffre
( “Die Inschrift Gottes“, J.L. Borges ).
Der Tiger ist mehr als körperliche Anwesenheit, er ist eine
Metapher, ein Archetypus.
Seine Schönheit ergreift uns und
macht
uns betroffen, die Magie seines charismatischen Wesens erfüllt
uns mit Ehrfurcht. Es mag schrecken, tief in sich
hineinzuschauen, um dort den Tiger zu entdecken.
Ist es sein
Hunger, der Beute
verlangt? Das Raubtier ist solange Jäger, bis eine Beute
seinen
Hunger stillt: Auf der Lauer, Tarnung, Spannung, Energie,
Zielstrebigkeit, das Wagnis der Entscheidung, der Sprung, ...
ist es die Leidenschaftlichkeit der Liebe und Fürsorge, die Fähigkeit, einsam, für sich
zu sein, die Fähigkeit zur
Muße
und Zufriedenheit, ... ist es die Kraft, die
Schönheit. Ist der Tiger erst einmal
gedacht,
begleitet er uns. Wir beginnen mehr und mehr seine Spuren zu
sehen. Wir sehen aber auch den Käfig,
die Gitterstäbe, die
Welten trennen. Hier erfahren wir im WAAUU des Tigers unsere
eigene Befangenheit, das Gefangensein.
Die Arbeit am
Konzept “Spuren des
Tigers“ verdeutlicht verschiedene Möglichkeiten der
Annäherung
an ein komplexes Thema: intuitive, assoziative, persönliche
und
emotionale oder eine von sachlichem Interesse, von Schulwissen
geprägte Annäherung.
War das Konzept
zunächst von
Emotion und Assoziation bestimmt, in deren Folge künstlerische
Arbeiten wie Performance und Bildwerke entstanden, kristallisierte
sich im weiteren Verlauf eine Verpflichtung zu sachlicher
Untersuchung und Archivierung von Fundstücken und
Beiträgen zum Tigerthema heraus.
Weil der Tiger
sich letztendlich nicht
bewältigen lässt, kann hier auch nie Umfassenderes
erstellt
werden als eine Collage aus vielfältigen Einzelteilen, die in
ihrer Zusammenschau als künstlerische Einheit erfahrbar
sind. Der Tiger lässt sich nicht
einverleiben, seine Qualitäten werden nicht in Besitz
genommen, indem wir ihn zerlegen und verzehren und dort die
Lösung des
Rätsels suchen. Wenn der Tiger verschwindet, werden wir arm
zurückbleiben mit dem “Verlust der Liebe“
( greenpeace magazin, Nov./Dez. 6/06 )
.
Es
wird gesagt, das Tierreich in uns
warte auf Erlösung, und es wird auch gesagt, dem Weisen sei
es gegeben,
den Tiger vom Blutdurst zu erlösen, friedvoll
ist er dann und dient seinem Meister als Ruhekissen.
Brigitta
Quast 2008