Ausstellungen und Projekte
Spuren des Tigers
Kreismuseum Peine, 2002 | | |
Brigitta C. Quast Bildende
Künstlerin |
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Exponate, Tigerwimpel
(Eingangshalle) | eigenmythologische
Exponate (Vitrine), Fächerskulptur (Wand) | Tigerbanner, 650x120cm |
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Warum
beginnt
eine Malerin sich plötzlich mit dem Tiger
zu beschäftigen?
Wie sie selbst beschreibt, war es im Jahre 1977, als sie der
unaufhörliche und durchdringende Schrei einer Berliner Zootigerin
bis ins Mark erschütterte.
Die Wildnis, der Tiger als mythisches Wesen, hatte sich in
ihr
Bewusstsein gedrängt – wild, aber in einen Käfig
gesperrt, zur Sicherheit der Zoobesucher. Der Tiger bleibt auch im
Käfig wild, er lässt sich nur für Zirkusnummern
zähmen. Versuche, den Käfig zu überwinden, enden mit
schrecklichen Szenen von Blut und Verletzung. Doch die künstliche
Szenerie im Zoo erinnert entfernt an längst vergangene
Kolonialzeiten, die niemals zurückgeholt werden können, auch
nicht in einer Inszenierung. Vor allem nicht, weil der Mensch gar keine
wildlebenden Tiger mehr zulassen kann. Dafür ist in unserer durch
und durch verwalteten und kartierten Welt kein Platz mehr, so daß
der Zoo ein Museum geworden ist, in dem vom Aussterben bedrohte Arten
sorgfältig katalogisiert, erforscht und in Käfigen archiviert
werden, um sie für die Nachwelt zu konservieren. Vermeintlich
gebändigte Wildnis, ein Anachronismus in einer Welt, vermeintlich ohne
unerforschte Orte und Tiere...
Brigitta C. Quast hat genau dieses Dilemma erst in Worte,
dann in
Aktionen und Sammlungen gefasst: ”Zuflucht, Schutz, Versorgung,
Verwöhnung, Entmündigung, Schaustellung, Pranger,
Gefängnis, Enge, Flucht.” (s. S. 12,
Künstlerbuch ”Spuren des Tigers”). Einer
oder mehrere dieser Aspekte
finden sich in ihrer gesamten ”Tigerkunst”, wie ich sie als
Kürzel hier einmal nennen will, so dass Vielschichtigkeit,
Vieldeutigkeit und Doppelbödigkeit eine Rolle spielen und zu
komplexen Verdichtungen führen. Warum aber gerade der Tiger?
Brigitta C. Quast ist im chinesischen Horoskop ein Hase, der
ja genau
zwischen Tiger und Drache steht (darauf bezieht sich das Objekt des
mit Gips gefüllten Schokoladen-Osterhasen,
ein
Beuys-Zitat).
Für
sie ist der Tiger eine kongeniale Form, ihrem eigentlich eher stillen,
zurückhaltenden Wesen, das auch depressive Phasen kennt, eine
Möglichkeit des Auslebens von Aktivität, Dynamik, auch
Aggression, eben aller Qualitäten, die einem Tiger nachgesagt
werden, zu geben. In der Anfangsphase wandte sich Brigitta C. Quast von
der Malerei weg zu Aktionen mit dem Thema Selbsterfahrung. Sie hat
allerdings nie aufgehört zu malen. 1990 widmete ihr das
Kreismuseum Peine eine Einzelausstellung, ”Schwarzer
Regen”, nur mit Bildern, zu dem auch ein Katalog, jedoch nur mit
Texten, erschien. Später, mit einigem Abstand, konnten die
KunsthistorikerInnen für ihre Art der Kunst einen Stilbegriff
finden: Individuelle Mythologien. Da wären Künstler zu nennen
wie Lili Fischer, Anne und Patrick Poirier, Anna Oppermann oder die
vielen VideokünstlerInnen der jetzigen Generation.
Die Selbsterfahrung bzw. die verschlüsselte Selbstdarstellung
mit
Fotos (etwa die Serie ”Trying to change”, die Verwandlungen
mit Masken, ”Selbst mit Maske”, Tigerblusen, ”Late
marriage with a tyger” etc.) bedeutete für Brigitta C. Quast
eine Möglichkeit des Ausbruchs, der Befreiung aus einem von der
Gesellschaft aufgezwungenen weiblichen Gefängnis. Mithilfe der
Kunst war das legitim und anerkannt, in dieser Form neu und Aufsehen
erregend. Ausleben von Aggression und eigentlich unerlaubte Aktionen
wie das Aufsprayen von Tigerzeichen waren Mittel zum Zweck, die in
unserer Gesellschaft bei Frauen nicht sehr geschätzt sind. Zeigen
Frauen Aggression oder eine Form der Selbstverteidigung, werden sie als
hysterisch oder noch schlimmer, als Zicken abgestempelt, also in ein
Gefängnis gesteckt, aus dem ein Entkommen wenig wahrscheinlich
ist. Befreiung erscheint vielen Frauen, auch Künstlerinnen dann so
schwerwiegend wie der Tatzenhieb einer Tigerin... Aber Brigitta C.
Quast blieb nicht bei einer Nabelschau, dem selbstgebauten
Gefängnis vieler KünstlerInnen. Sie brach aus und begann die
vielschichtige Sammlung ”Spuren des Tigers”, die nicht nur
aus eigenen Arbeiten besteht, sondern aus Objekten der Kunst (Musik,
Literatur, Film), der Mythologie, der Philosophie und vor allem der
Konsumwelt.
Die sehr sparsam bestückten Vitrinen mit Quast-Installationen
zum
Thema zeigen, dass die Künstlerin dem Zen-Gedanken geistig sehr
nahe steht. Sie hat – wie es die Philosophie des Zen verlangt,
ein tägliches Bewusst-Sein, was nichts anderes ist als schlafen,
wenn man müde ist und essen, wenn man Hunger hat. So gibt es
für sie Dinge, ”die getan werden müssen”. Das ist
für sie z.B. auch die Kunst, die sie nicht nur als etwas
Erfreuliches, Entspannendes ansieht, sondern als Pflicht, als Pflicht
in der Gesellschaft, in der sie lebt. Dabei wurde ihr plötzlich
freudig bewusst, dass sie sich in bester Gesellschaft befand: Bei ihrer
Spurensuche traf sie auf immer mehr Bildende Künstler, Autoren und
Musiker, die sich oft Zeit ihres Lebens mit dem Phänomen Tiger
beschäftigt haben.
Die vollen Vitrinen zu diesen Themen in der
Kreismuseumsausstellung
legen Zeugnis ab und mussten doch ganz entsetzlich eingeschränkt
werden! Ausgewählte Fundstücke sind hier ausgestellt,
Postkartenmotive von Eugène Delacrox, Franz Marc oder Oskar
Kokoschka, der befremdlicherweise sogar von sich behauptete, er
könne dem Tiger mit seiner Malerei einfach nicht beikommen, das
sei für ihn zu schwer. So fühlt sich Brigitta C. Quast auch
manchmal, denn die Spurensuche kann eigentlich an kein Ende gelangen,
immer noch kommt dieser oder jener Aspekt ins Visier. Da muss sich die
Künstlerin dann freiwillig in das Gefängnis der Auswahl
begeben, und mit ihr die Ausstellungsmacherin. Ich gestehe, das
fällt manchmal sehr, sehr schwer. Denn allzu viel Sehenswertes,
Künstlerisches, Kurioses, Witziges, Abstruses, Schockierendes,
Abstoßendes und Wunderschönes ist hier versammelt, das in
jeder Form seinen Platz in der Sammlung hat.
Die
Ausstellungsfläche war einfach zu klein. Und darum wurden als
ironische Kommentare zu den Dingen der Alltagskultur vergangener
Jahrhunderte Tiger-Objekte in Kontrast gesetzt. Aufmerksame
Museumsbesucher werden ihren Spaß oder ihren Ärger haben, je
nach Einstellung. Aber katzengleich schmiegt sich der Tiger allen
Museumsobjekten an und beweist so seine Zeitlosigkeit. Eine große
Abteilung bildet auch die sog. Mail-Art, Tiger-Findungen von
Künstlerfreunden wie z. B. Timm Ulrichs, Barbara Noculak, Jakob
Mattner, Ruth Rehfeld, Wolfgang Rohloff u.a., aber auch von
überaus zahlreichen ”Normalsterblichen”, so auch mir. Denn plötzlich
stieß ich überall auf ”Spuren des
Tigers” wie offenbar die vielen anderen auch. Durch die
”Tiger-Post-Kommunikation” blieben viele in Gedanken mit
der Künstlerin verbunden und schickten ihr im Laufe der
vergangenen Jahre unzählige Briefe und Karten mit Hinweisen. Nur
eine winzige Auswahl ist in der Ausstellung zu sehen.
In der Literatur tauchen zum Tiger-Thema berühmte Namen auf
wie
Nietzsche, Blake, Sarah Kirsch, Gustave Flaubert, Goethe, Virginia
Woolf, Joseph Conrad, Kakuzo Okakura, Raymund Chandler, Rainer Maria
Rilke, William Blake und immer wieder Jorge Luis Borges und viele
andere.
Sie alle inspirierten Brigitta C. Quast zu einem
Extra-Büchlein mit ”Poetisch / Literarischen
Tiger-Findungen”. Aber nicht nur ausgewiesene KünstlerInnen
schrieben extra für sie Tiger-Texte, sondern auch Leute wie z.B.
Harry R.Sinske mit seinem Prosatext ”TigerGefühle”,
die für mich ”Literatur” sind, auch wenn er sich vielleicht nicht als
”Literat” aufspielt; der
Literaturwissenschaftler Michael C. Glasmeier, heute Professor an der
HbK Braunschweig: über einen philosophischen, biblischen,
irrtümlichen, etymologischen, reisenden, sammelnden,
märchenhaften, melancholischen, sprachkritischen oder zoologischen
Tiger, je nachdem, und ich verschweige nicht, dass der sexuelle Tiger
besonders zum Lachen reizt. Lesen Sie es nach! KunsthistorikerInnen wie
Walter Aue oder Renate Grisebach kamen selbstverständlich auch zu
Wort, oder der Theaterwissenschaftler Volker Amrhein. Und, und, und.
Tiger-Dinge aus der bunten Waren- und Konsumwelt, unserer
Alltagskultur, lassen uns oft mit dem Kopf schütteln. Wozu ist der
Tiger nicht alles benutzt und vereinnahmt worden! Wie Brigitta C. Quast
sagt: ”Er tigert durch Modehäuser und Geschenke-shops,
über Rummel und Straßen, an [Esso]Tankstellen
entlang.” Frauen lieben den ”Tigerlook”, der im
Sprachgebrauch auch andere Großkatzen mit einschließt.
Katzenhaft zu sein ist für eine Frau eher ein Kompliment als eine
Abwertung, und manche, etwa ein Model, mag ihr Wildkatzenimage damit
aufpolieren
und noch begehrenswerter für die Männerwelt dastehen.
Oft
aber wirken die getigerten Frauen - und das im gesellschaftlichen
Geschmack fest verankert - aufgrund ihres Alters, ihrer
Übergewichtigkeit oder ihrer Ungepflegtheit schlicht nur noch
lächerlich. Warum das so ist, darüber ließe sich
philosophieren.
Und die Esso-Kampagne mit dem Tiger, erst als Comic-Figur, dann mit dem
wunderschön in
freier Wildbahn fotografierten Tier, - jedes Kind kennt sie. Man
forderte sie in letzter Zeit geradezu zurück. Jetzt begegnet man
oft auch noch dem dicken, aufgeblasenen, platzeinnehmenden
Kunststofftiger auf den Dächern der Tankstellen, und jeder
weiß ganz klar, wofür hier der Tiger steht.
Es liegt am Publikum, an jedem selbst, ob dem Tiger mit dem
Museum ein
neues Gefängnis erwachsen ist, ein intellektuelles diesmal, oder
ob er die Freiheit bekommt, sich hinauszuschleichen, in die Gedanken-
und Vorstellungswelt und in die Erinnerung der Menschen, die ihm
nachtigern.
Dr. Ulrika Evers
15. 6. 2002 |
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